In den Naturwissenschaften werden häufig Differentialgleichungen eingesetzt, um physikalische, chemische oder biologische Vorgänge in der Natur zu beschreiben und zu analysieren. Sie dienen häufig als modellhafte Abbildung der Realität, um diese zu simulieren oder um Vorhersagen treffen zu können. In diesem Video gebe ich einen kurzen Überblick darüber, was eine Differentialgleichung eigentlich ist, welche Arten es gibt und zeige dazu verschiedene Beispiele.
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Nötige Vorkenntnisse
- Grundlegende mathematische Kenntnisse von Funktionen und deren Ableitungen
- Sicherer Umgang mit mathematischen Gleichungen
Was ist eine Differentialgleichung?
Betrachten wir zunächst einmal in Anführungszeichen „normale“ Gleichungen, wie man sie bereits aus der Schule kennt. Damit meine ich Gleichungen wie
$2x + 4=2$
oder eine quadratische Gleichung wie
$5x²-4x=1$
Um diese Gleichungen zu lösen, kann man diese nach $x$ auflösen und erhält so entweder eine oder, wie im Fall der quadratischen Gleichung, mehrere Zahlen. Das sieht dann zum Beispiel so aus:
$\begin{alignat}{2} 2x+4&=2 &&~~~~|-4 \\ 2x&=-2 &&~~~~|:2 \\ x&=-1 &&~ \end{alignat}$
Theoretisch gibt es natürlich auch Gleichungen, die keine Lösung haben oder sich nicht analytisch lösen lassen, aber darum soll es in diesem Video jetzt nicht gehen. Betrachten wir jetzt mal im Gegensatz dazu Differentialgleichungen, wie
$y'(x) + 2y(x) = 0$
oder
$y^{\prime \prime}(x) – 4y(x) = x$
Der kleine Strich an der Funktion $y(x)$ (also $y'(x)$) ist den meisten vermutlich bekannt. Er bezeichnet die Ableitung der Funktion $y$ nach $x$ und im Falle von zwei Strichen, wie bei der zweiten Gleichung, die zweite Ableitung der Funktion $y$ nach $x$. Diese Differentialgleichungen werden nun nicht nach der Variable $x$, sondern nach der Funktion $y(x)$ gelöst. Das heißt, die Lösung einer Differentialgleichung ist eine Funktion. Im einfachsten Fall ist das wie hier eine Funktion, die nur von einer Variable, in diesem Falle $x$, abhängt. Schauen wir uns dazu einmal beispielhaft an, wie der radioaktive Zerfallsprozess von Atomen unter Verwendung einer Differentialgleichung modelliert werden kann.
Gewöhnliche Differentialgleichungen
Betrachten wir dazu einmal Uran 238, welches mit der Zeit in Thorium 234 und einen Heliumkern zerfällt. Zusätzlich wird durch diesen Prozess Energie freigesetzt:
Bezeichnen wir einmal mit der Funktion $N(t)$ die Anzahl der Uranatomkerne, die zu einem Zeitpunkt $t$ existieren. Die Ableitung $N'(t)$ ist somit die Rate, mit der die Atomkerne zu einem Zeitpunkt $t$ zerfallen. Um das Ganze etwas anschaulicher zu machen, blicken wir dazu einmal den Quotienten ${ \Delta N \over \Delta t}$:
${ \Delta N \over \Delta t}={N_2-N_1\over t_2-t_1}={900~U-1000~U \over1.0~s -0.0~s}=-100{U \over s}$
Wir nehmen zwei beliebige Zeitpunkte $t_1$ und $t_2$, mit den zu diesen Zeitpunkten jeweils vorhandenen Urankernen $N_1$ und $N_2$ an. Anschließend setzen wir dazu einmal beispielhaft ein paar Zahlen ein: Zum Zeitpunkt $t_1=0s$ existieren noch 1000 Urankerne, hier mit $U$ abgekürzt, und zum Zeitpunkt $t_2=1s$ nur noch 900 Kerne. Somit ergibt sich eine Änderungsrate von -100 Kernen pro Sekunde, also $-100{U \over s}$. Die Ableitung $N'(t)$ gibt also, wie oben beschrieben, die Rate an, mit der Urankerne zerfallen. Lässt man in der obigen Gleichung $\Delta t$ gegen $0$ gehen, erhält man die Ableitung $N'(t)$ zum jeweiligen Zeitpunkt $t$.
Aus Beobachtungen der Wirklichkeit lässt sich schließen, dass, je mehr Urankerne vorhanden sind, desto mehr Kerne zerfallen auch. Wir können also sagen, dass die Zerfallsrate $N'(t)$ proportional zur Anzahl der Kerne $N(t)$ ist. Da es sich um eine Zerfallsrate und keine Neubildung von Urankernen handelt, gilt Folgendes:
$N'(t) \propto – N(t)$
Das Minus war ja auch bereits im obigen Beispiel zur Ableitung vorhanden. Die obige Aussage über die Proportionalität lässt sich auch in eine Gleichung umwandeln, indem wir die Zerfallsrate $\lambda$ einführen:
$N'(t) = -\lambda N(t)$
Die Zerfallsrate $\lambda$ ist für jedes radioaktive zerfallende Material verschieden und gibt grob gesagt an, wie schnell die jeweiligen Atome zerfallen. Wir haben nun also eine Differentialgleichung hergeleitet. Da in dieser Gleichung nur Ableitungen nach einer Variable, in diesem Fall der Zeit $t$, auftreten, bezeichnet man diese Gleichung als gewöhnliche Differentialgleichung. Weiter unten folgt noch ein anderes Beispiel mit Ableitungen nach mehreren Variablen.
Um solch eine Differentialgleichung eindeutig lösen zu können, benötigt man noch eine zusätzliche Information mittels einer algebraischen Gleichung. Meist ist dies eine Angabe über die Verhältnisse zum Zeitpunkt $t=0$, was auch als Anfangsbedingung bezeichnet wird. Die Anzahl der Urankerne zum Zeitpunkt $t=0$ wird mit $N_0$ symbolisiert und muss zur Lösung der Gleichung bekannt sein:
$ \begin{align*} N'(t) &= -\lambda N(t) \\
N(t=0) &= N_0 \end{align*}$
Zusammengefasst bezeichnet man diese beiden Gleichungen auch als Anfangswertproblem, abgekürzt AWP. Die Lösung genau dieses Anfangswertproblems ist die folgende exponentielle Funktion:
$N(t) = N_0 ~e^{-\lambda t}$
Zur Überprüfung könnt ihr ja mal die Funktion in die beiden oberen Gleichungen einsetzen. Grafisch sieht das Ganze jetzt wie folgt aus:
Die Funktion startet zum Zeitpunkt $t=0$ bei $N_0$. Mit der Zeit zerfallen immer mehr Atomkerne, sodass die Anzahl der Uranatomkerne $N$ sinkt. Gleichzeitig wird dadurch die Zerfallsrate kleiner und die Funktion sinkt immer langsamer ab und nähert sich asymptotisch der x-Achse. Die grundlegende Form der Kurve gilt für alle $N_0$ und für alle $\lambda$. Diese Parameter beeinflussen lediglich die hier nicht dargestellten Werte auf den Achsen.
Mit der Lösung $N(t) = N_0 ~e^{-\lambda t}$, die aus dem obigen Anfangswertproblem ermittelt wurde, lässt sich somit für ein beliebiges radioaktives Material, zu dem $N_0$ und $\lambda$ bekannt sind, die Menge der Atomkerne $N$ zu einem beliebigen Zeitpunkt $t$ berechnen.
Partielle Differentialgleichungen
Blicken wir nun einmal auf die folgende Gleichung, die auch als Wärmeleitungsgleichung bekannt ist:
$\partial_t u ( t, x ) – \kappa~ \partial^2_x u( t , x ) =0$
In dieser Gleichung stellt die Funktion $u(t,x)$ die Temperatur an der Stelle $x$ zum Zeitpunkt $t$ dar. Der Parameter $\kappa$ steht dabei für die Temperaturleitfähigkeit des Materials und ist stets größer als 0. Der Unterschied zu der vorher gezeigten Differentialgleichung ist, dass sich in dieser Gleichung sowohl Ableitungen nach der Zeit $t$, als auch nach der Ortskoordinate $x$ befinden. Diese verstecken sich in der kompakten Schreibweise mit dem kleinen $\partial$:
$\begin{align*} \partial_t u (t , x) &={\partial u ( t, x)\over \partial t} \\
\partial^2_x u (t , x) &={\partial^2 u ( t, x)\over \partial x^2} \end{align*}$
Dabei steht $\partial_t u$, für die partielle Ableitung von $u$ nach der Zeit $t$ und äquivalent dazu steht die Ableitung $\partial^2_x u$ für die zweite partielle Ableitung von $u$ nach der Ortskoordinate $x$.
Die Wärmeleitungsgleichung fällt damit unter die Kategorie partielle Differentialgleichung, welche in der Regel deutlich komplexere natürliche Phänomene beschreiben können. Diese Art von Differentialgleichung ist jedoch deutlich schwerer zu lösen und erfordert häufig spezielle numerische Lösungsverfahren, da keine analytischen Lösungen bekannt sind.
Wir betrachten jetzt einmal beispielhaft das folgende Anfangswertproblem, indem wir ein Temperaturprofil $u_0$ für den Zeitpunkt $t=0$ gegeben haben:
$\begin{align*} \partial_t u ( t, x ) – \kappa~ \partial^2_x u( t , x ) &= 0 \\
u(t=0, x) &= u_0(x) \end{align*}$
Nehmen wir dazu einen langen metallenen Stab mit der Länge $x=L$ an. Das Ganze lässt sich dann auch einmal wie folgt grafisch darstellen, wobei die Funktion $u_0(x)$ einfach eine ansteigende Gerade ist.
In der Abbildung steht blau für eine niedrige Temperatur und rot für eine hohe Temperatur. Löst man das obige Anfangswertproblem nun in die Zukunft für $t>0$, so gleicht sich allmählich die Temperatur innerhalb des Metallstabes aus, bis er an allen Punkten etwa die gleiche Temperatur hat. Die Wärme ist sozusagen von rechts nach links geflossen. Dieser Prozess ist einmal im folgenden Video dargestellt.
Häufig ist bei der Lösung von partiellen Differentialgleichungen aber nicht nur ein Anfangswert, sondern auch Randwerte. Beispielhaft sei einmal vorgegeben, dass jeweils am Rand des Metallstabes $u(t,x=0)=u(t,x=L)=0$ gilt. Das gesamte Gleichungssystem bezeichnet man dann als Anfangsrandwertproblem, abgekürzt ARWP:
$\begin{align*} \partial_t u ( t, x ) – \kappa~ \partial^2_x u( t , x ) &= 0 \\
u(t=0, x) &= u_0(x) = 1\\
u(t,x=0)&=u(t,x=L)=0 \end{align*}$
Wir nehmen an, dass $u_0(x) = 1$ ist für alle x zwischen $0$ und $L$. Das sieht dann in etwa so aus, wobei am Rand naturgemäß eine Unstetigkeit entsteht, die kleinere Darstellungsprobleme verursacht:
Lasst euch davon an dieser Stelle nicht stören, für $t>0$ verschwindet diese automatisch. Lösen wir das Anfangsrandwertproblem für $t>0$, so wie im folgenden Video, sehen wir, dass die Unstetigkeit verschwindet und sich die Temperatur im Innern der Temperatur am Rand anpasst und ebenfalls gegen $0$ geht.
Für $\lim \limits_{t \to \infty}$ ergibt sich so die Lösung $u(x)=0$ für das obige Anfangsrandwertproblem. Man kann die Wärmeleitungsgleichung auch problemlos auf zwei oder drei Dimensionen erweitern, komplizierte Rand- und Anfangsbedingungen hinzufügen usw. Das soll es an dieser Stelle aber erst einmal gewesen sein.
Zusammenfassung
In diesem Artikel habe ich euch eine kleine Einführung in die Welt der Differentialgleichungen gegeben. Ich habe erklärt, was eine Differentialgleichung von einer „normalen“ Gleichung unterscheidet und habe sowohl ein Beispiel zu gewöhnlichen, als auch zu partiellen Differentialgleichungen gezeigt.
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Quellen
Differentialgleichungen allgemein: https://de.wikipedia.org/wiki/Differentialgleichung
Bild Atomkerne: https://lp.uni-goettingen.de/get/text/4433
Radioaktiver Zerfall: https://www.leifiphysik.de/kern-teilchenphysik/radioaktivitaet-fortfuehrung/grundwissen/zerfallsgesetz-zerfallskonstante-und-halbwertszeit
Wärmeleitungsgleichung: https://pnp.mathematik.uni-stuttgart.de/igt/eiserm/lehre/HM3/HM3-S-1×2.pdf